Logotherapie und Psychosynthese im Kontext pädagogisch-therapeutischer
Bildung und Beratung
veröffentlicht in: Counseling, Theorie und Praxis der Beratungspädagogik.
Klaus Lumma (Hrsg.).-Eschweiler (IHP Bücherdienst) 1999. Humanistische
Psychologie. 22. Jahrgang. Sonderausgabe 1/99. ISBN 3-923636-28-8
von Julianna Heiland
"Sowohl die Logotherapie als auch die Psychosynthese
sind ganzheitliche Therapieformen, die nicht nur die psychische Dimension
bzw. die personale Ebene des Menschen berücksichtigen, sondern ihn auch
in seinem Wesen als geistige Existenz und in seinem transpersonalen Sein
sehen. Beide Theorien gründen auf einem humanistischen Menschen- und Weltbild
und einer Anthropologie, die wichtige Elemente für die Bildungs- und Beratungsarbeit
enthält. Es geht im pädagogisch-therapeutischen Bereich um die Arbeit
mit dem "gesunden" Menschen an dem Verständnis seiner blockierenden Lebensmuster,
der Bewältigung von Krisen und Herausforderungen des Lebens, dem Gebrauch
seiner existentiellen Möglichkeiten und dem Zugang zur transpersonalen
Dimension. Eine spezifische Indikation für pädagogisch-therapeutische
Beratung auf dem Hintergrund von Logotherapie und Psychosynthese stellen
Fragen nach dem Sinn des eigenen Lebens, der persönlichen Bestimmung,
der Bedeutung von Leid, Tod, Gut, Böse, ... und Erkrankungen aufgrund
geistiger Frustrationen dar. Es geht hier um Menschen, die sich nicht
eigentlich in einem seelischen Krankenstand, sondern vielmehr in einem
geistigen Notstand befinden".
(Frankl 1987)
Logotherapie
Im Mittelpunkt, der von dem Wiener Neurologen und Psychiater Viktor E.
Frankl entwickelten Logotherapie, steht die geistige Dimension menschlicher
Existenz. Neben den Seinsbereichen des physischen und des psychischen
Lebens, in denen das Kausalitätsprinzip und damit Determinismus herrscht,
gibt es das geistige Sein, das Frankl als die eigentliche menschliche
Dimension bezeichnet und deren Wesensmerkmal die Freiheit ist. Der Mensch
ist grundsätzlich frei, sich seinen physischen, psychischen und schicksalhaften
Bedingtheiten und Einflüssen gegenüber zu verhalten, d.h. sich eine Einstellung
dazu zu erarbeiten und eine selbst gewählte Art des Umgangs mit der entsprechenden
Situation zu entwerfen. Der Mensch ist zwar bedingt, aber er ist seinen
Bedingtheiten nicht hilflos ausgeliefert. Dieser noo-psychische Antagonismus
ist ein wichtiger Teil logotherapeutischer Beratungsarbeit. Der Mensch
ist sogar aufgefordert, Stellung zu beziehen, da es das Leben ist, das
dem Menschen Fragen stellt, er hat die Fragen zu beantworten, sein Leben
zu verantworten. (Frankl 1996)
Durch die Wahrnehmung seiner Freiheit und der damit verbundenen Verantwortung,
die zu seiner unzerstörbaren Personalität gehören, vollzieht er existentielles
Sein und transzendiert sich selbst. Selbsttranszendenz bezeichnet hier
die Fähigkeit eines Menschen, sich auf etwas auszurichten, das nicht wieder
er selbst ist, z.B. auf eine Herausforderung, eine Aufgabe, einen Menschen.
Nach Frankl kann der Mensch seine personale Existenz nur entfalten und
damit sich selbst verwirklichen, wenn er sich für den von ihm zu erfüllenden
Sinn öffnet, indem er verantwortlich teilnimmt, an dem, was das Leben
an ihn heranträgt. Das anthropologische Konzept der Logotherapie geht
von einem Willen zum Sinn aus, der als Primärmotivation eines jeden Menschen
aktiv ist. Nur ein sinnvolles Leben ist ein gelingendes Leben und nur
die Sinnsuche führt den Menschen zu sich selbst. Dabei betont Frankl,
dass der Sinn menschlichen Daseins darin besteht, die Diskrepanz zwischen
Sein und Sollen zu verringern, d.h. immer mehr "der
zu werden, der einzig und allein er werden kann und sein soll".
(Frankl 1996) Die Logotherapie versteht sich hier als eine Hilfe
zur Persönlichkeitsentwicklung vom bloßen Dasein zum Selbstsein im Kontext
der je individuellen existentiellen Situation.
Zur Erhellung der existentiellen Situation macht die Logotherapie im
Modus der Existenzanalyse (Analyse auf Existenz hin, nicht Analyse der
Existenz), die individuellen Potentiale, Möglichkeiten, Werte und Sinnspuren
des Ratsuchenden in seinem bisherigen Leben bewusst, damit er sich auf
dem Hintergrund dieser Gegebenheiten auf den gegenwärtigen Sinnanruf ausrichten
und damit weiterentwickeln kann. Es geht um das Erkennen des gegenwärtig
Gesollten und um die Hingabe an diesen Sinn. Frankl stellt heraus, dass
nichts so sehr hilft, mit Schwierigkeiten und Krisen im Leben umzugehen,
wie das Wissen um einen Sinn.
Krisensituationen evozieren die Notwendigkeit, einen Sinnfindungsprozess
in Gang zu setzen. Sie fordern dazu heraus, die Botschaft der Krisen zu
verstehen, d.h. individuell zu deuten. Diese Erkenntnis von Bedeutungszusammenhängen
ist Sinnverstehen und das Verstehen von Sinn bewirkt eine Reifung des
individuellen Bewusstseins im Sinne einer Bewusstseinserweiterung und
-ausdehnung. (Adl-Amini 1992)
Frankl geht davon aus, dass sich die Bildung des Menschen in seiner verantwortlichen
Teilnahme an dem, was auf der Bühne des Lebens gespielt wird, vollzieht.
Der Mensch ist als selbstreflektierendes, geistiges Wesen weltoffen und
wird erst er selbst, wenn er sich auf etwas ausrichtet, dass nicht wieder
er selbst ist, indem er wertorientiert und damit sinnvoll lebt. Um dem
je individuellen Bildungsanspruch gerecht zu werden, müssen immer wieder
die Fragen nach dem eigenen Standpunkt "Wo stehe ich?" und dem nächsten
Schritt "Wo soll ich hin" beantwortet werden. Das Sinnverstehen schwieriger
Lebenssituationen und Krisen erleichtert die Bewegung vom Sein zum Sollen.
In der Logotherapie bedeutet Bildung nicht nur die Entdeckung und Entfaltung
der dem Menschen innewohnenden Potentiale und Stärken, sondern auch die
Bewusstwerdung des Menschen in seinem Wesen als geistige Existenz. In
dem von der Logotherapie beschriebenen Lernprozess geht es um den Gebrauch
seiner existentiellen Gegebenheiten von Freiheit und Verantwortung und
um die Transzendierung der Existenz. Der Mensch ist allerdings frei, sich
für oder gegen die Selbstverwirklichung durch die Verwirklichung seiner
existentiellen Lebensmöglichkeiten zu entscheiden.
Ein präventiver Aspekt des logotherapeutischen Bildungsbegriffes lässt
sich aus der Sinnorientiertheit des Menschen ableiten. Die positive Energie
und Lebenskraft, die von der Hingabe an Sinngestalten im Leben ausgeht,
schützt den Menschen weitgehend vor neurotischen und psychosomatischen
Symptomen, da diese ihre Wurzeln in einer existentiellen Verunsicherung
haben, die mit Sinnlosigkeitsgefühlen einhergehen kann, einem existentiellen
Vakuum.
Pädagogisch-therapeutische Beratung im Modus von Logotherapie vollzieht
sich in einem Gespräch, das nicht nur den aktuellen Konflikt zum Inhalt
hat, sondern auch auf einen intentionalen Gegenstand ausgerichtet ist
(Dereflexion). Als positive Begleiterscheinung wird eine zu starke Fokussierung
auf das Konflikthafte vermieden und damit die Gefahr der Hyper-Reflexion.
Des Weiteren werden die Ressourcen des Klienten, das positiv Erlebte,
seine Stärken und das Gesunderhaltende in den Beratungsprozess miteinbezogen
und für die Bewältigung des Konfliktes genutzt. Der Ausgangspunkt des
Dialoges ist immer die konkrete Lebenswirklichkeit des Ratsuchenden mit
dem Ziel, seine Selbstheilkräfte zu aktivieren. Ein weiteres wesentliches
Instrumentarium logotherapeutischer Beratung ist die Veränderung einer
destruktiven zu einer konstruktiven Einstellung (Einstellungsmodulation).
Gerade bei der Konfrontation des Klienten mit unabänderlichem Schicksal
kann die unbedingte Sinnhaftigkeit des Lebens durch eine Veränderung der
Sichtweise erfahren werden. Die Logotherapie geht davon aus, dass im Annehmen
von Leid, Schuld und Tod die höchsten Sinnmöglichkeiten menschlicher Existenz
liegen.
Die Bewusstmachung und Mobilisierung der geistigen Fähigkeiten dient
der Bewältigung von Konflikten und existentiellen Reifungskrisen im Sinn
von Bewusstseinserweiterung und Sinnverwirklichung und damit Selbstverwirklichung.
Eine spezifische Indikation für eine logotherapeutische Beratung stellen
die noogenen Neurosen dar. "In Fällen, wo letztlich
ein geistiges Problem, ein sittlicher Konflikt oder eine existentielle
Krise der betreffenden Neurose ätiologisch zugrunde liegt, sprechen wir
von noogener Neurose." (Frankl 1987) Wenn ein Mensch existentiell
frustriert ist, d.h. wenn er keinen Sinn in seinem Leben sieht und keine
Antworten auf wichtige existentielle Fragen weiss, kann sich sein Zustand
zu einer noogenen Neurose verdichten. Ein Symptom ist das Gefühl innerer
Leere, dass entweder mit Ersatzhandlungen betäubt wird (z.B. Süchte, Konsumdenken,
extremes Verhalten, ...) oder depressiv ertragen. Der logotherapeutische
Berater hilft dem Klienten, Wege aus diesem existentiellen Vakuum zu finden,
indem mit Hilfe der Existenzanalyse Sinnspuren in der Vergangenheit sichtbar
gemacht werden und neue Sinnhorizonte aufscheinen können. Sich auf die
aufscheinenden Sinnmöglichkeiten einzulassen und einen Schritt auf das
Gesollte hin zu tun, muss dem Ratsuchenden überlassen bleiben.
Psychosynthese
Die Psychosynthese wurde von dem italienischen Arzt und Psychiater Roberto
Assagioli begründet, nachdem er einige Zeit als Psychoanalytiker gearbeitet
hatte. Er entwickelte eine Psychotherapie, die sowohl die unbewussten,
als auch die personalen und transpersonalen "Aspekte" des Menschen berücksichtigt.
In seinem Modell geht es auf der personalen Ebene um die Synthese der
verschiedenen Rollen, Wünsche, Verhaltensmuster, Eigenschaften, der sogenannten
Teilpersönlichkeiten zu einem Ganzen, zu einer gut integrierten Persönlichkeit.
Um diese Entwicklung bewusst zu fördern und produktiv zu lenken, ist die
Erkenntnis notwendig, dass der Mensch eine Seele "ist" und eine Persönlichkeit
"hat". Der Mensch ist in der Lage, sich von seinen Teilpersönlichkeiten
zu disidentifizieren und frei zu entscheiden, wie er sich zu ihnen verhalten
möchte. Die Psychosynthese arbeitet schwerpunktmäßig mit der Wahrnehmung
und Stärkung dieser Instanz im Menschen, die alle Bewusstseinszustände
beobachten kann und selbst dabei völlig unbeteiligt ist, dem personalen
Selbst (Beobachter). Dieses Zentrum ist "reines Bewusstsein", das in sich
selbst stets gleich bleibt, ein Ort der Stille. Der Kontakt zu diesem
Ort wird durch meditative und kontemplative Verfahren hergestellt und
immer mehr verstärkt.
Das personale Selbst ist mit dem transpersonalen Selbst verbunden, das
zu dem Bereich außerhalb unseres Alltagsbewusstseins gehört. Aus dieser
spirituellen Dimension können die Energien von Intuition, Inspiration,
Ethik, Mitgefühl, Weisheit und Liebe empfangen werden und Weisungen für
die eigene Lebensgestaltung. Mit Hilfe von meditativen Techniken, Visualisierungen
mit Symbolen, Imaginationen und freiem Malen wird der Kanal zwischen personalem
und transpersonalem Selbst bewusst gemacht und das Empfangen der heilenden,
"ganzmachenden" Energien ermöglicht. Das Ziel ist "vor
allem die Ganzheit des menschlichen Wesens zu wecken und den Zugang zur
Integration auf einer höheren Ebene zu erweitern." (Ferrucci
1989)
Die Psychosynthese initiiert Lernpozesse zum persönlichen Wachstum auf
der personalen und auf der transpersonalen Ebene, so dass der Bildungsbegriff
in Bezug auf die Psychosynthese beide Dimensionen umfasst. Bildung vollzieht
sich hier mit dem Ziel, das zu werden, was der einzelne Mensch bereits
ist. Durch die Harmonisierung bzw. Versöhnung der verschiedenen Teilpersönlichkeiten
im Menschen, die zum Teil ohne Verbindung nebeneinander existieren oder
im Konflikt miteinander kämpfen, werden neue Kräfte frei, ein Gefühl der
Lebensfreude erfahren und der Sinn des eigenen Lebens kann klarer erkannt
werden. (Ferrucci 1989) Die Bewusstmachung der einzelnen Teile
geschieht in der Beratungsarbeit im Gespräch, indem sie identifiziert
werden und in einen Disput treten. Das Wirken unbewusster Kräfte wird
so offensichtlich und mit Hilfe des menschlichen Willens lernt der Ratsuchende
mit seinen verschiedenartigen Teilpersönlichkeiten konstruktiv umzugehen
und sie immer mehr zu beherrschen. Assagioli stellt die Bedeutung eines
starken Willens für die Gestaltung eines freiheitlichen und verantwortlichen
Lebens heraus. Wenn dieser personale Wille fehlt oder er nur schwach ausgebildet
ist, besetzen Angst, Wut, Depression, Verwirrung und andere Gefühlszustände
jenen Bereich, der der Willensenergie vorbehalten ist. (Assagioli 1991)
Eine bewusste Schulung des Willens ist unerlässlich, um die innerpsychischen
und zwischenmenschlichen Konflikte aushalten und/oder lösen zu können
und in einem immerwährenden Lernprozess, das eigene Bewusstsein zu erweitern
und die verschiedenen Facetten des Lebens zu integrieren.
Die pädagogisch-therapeutische Beratungsarbeit bezieht die Energien aus
dem sogenannten Überbewussten, der transpersonalen Ebene immer mit ein.
Die Schaffung eines Kanals zwischen dem personalen und dem transpersonalen
Selbst ist ein zentraler Bestandteil der Arbeit und unterstützt die Entfaltung
zu einer ganzheitlichen Persönlichkeit mit der Erfahrung von Urvertrauen
und dem Rückgebundensein im Sein.
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